Robin Lindner's profile

zwei Euro, siebzig Cent

zwei Euro, siebzig Cent

Ryanair haben wir nicht geschlagen. Ende 2018 verkloppte die Airline Tickets auf der innerdeutschen Berlin-Mallorca-Verbindung für 1,99€. Und unterbot damit unsere Kosten auf der Route Karlsruhe-Santander um exakt 71 Cent. Aber kein Grund Trübsal zu blasen, erlebt haben wir auf unserer per-Anhalter-Fahrt sicher um einiges mehr.


Aller Anfang ist schwer. Wir stehen irgendwo vor Karlsruhe mit einem Schild und sehnen uns nach Ferne. Ob wir das Richtige auf die Pappe zwischen unseren Händen geschmiert haben? Sicher sind wir uns nicht. Deswegen steht auf der einen Seite A5 - und nichts weiter. Auf der anderen steht Freiburg. Wir wechseln die Seiten der Pappe häufig, in der festen Überzeugung, sie sei der Grund dafür, dass wir nicht mitgenommen werden. Noch öfter, als die Pappe, wechseln wir die Stelle, in dem Glauben, die Autofahrer könnten doch bestimmt an anderen Orten besser für uns anhalten. Es ist eine Mischung aus Unsicherheit und Ungeduld. Das Seltsame am Trampen: So schnell man erfolgsverwöhnt denkt, es per Anhalter ans Ende der Welt schaffen zu können, so schnell sieht man auch alles schwarz, wenn stundenlang kein Wagen anhält. Wir haben zwar Autostop-Erfahrung, die beschränkt sich allerdings auf deutlich kürzere Strecken und deutlich abgelegenere Gegenden. Diesmal aber wollen wir nach Spanien und dafür braucht es die Autobahn. In einer Woche sind wir schließlich in Santander mit unseren Freunden verabredet.  

Da man schwer an der Leitplanke der A5 stehen und den Daumen recken kann, gilt es also erst einmal, auf die Autobahn zu kommen. Sie erinnert mich in diesem Moment unweigerlich an eine dicke pulsierende Arterie, die unablässlich Teilchen im Eiltempo in die Ferne transportiert. Und wir stehen irgendwo an einer Kapillare an einer Ampel und müssen erst in den großen Kreislauf hinein, um Kilometer zu spulen. Dass ich überhaupt die Zeit habe, mir solche Bilder im Kopf auszumalen, zeigt sehr gut, dass es sich so recht noch nicht trampt.

Und dann kam Cem. Unaufgeregt lenkt er seinen Handwerker-Kastenwagen ohne zu Blinken rechts auf den Bürgersteig, direkt vor unsere Füße. Tür auf, kurz die Richtung abgecheckt und wir sitzen bei unserem erstem Chauffeur und seinem Sohn auf der Rückbank. Cem ist Maler, gesprächige Frohnatur und nimmt öfters Trampende mit. Daher weiß er praktischerweise auch genau, wo er uns rauslassen kann, damit wir schnell weiterkommen. Eben noch entmutigt am Straßenrand, sitzen wir nun zwischen Pinseln und Farbeimern und brettern Kilometer um Kilometer dem Ziel näher. Trampen ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle, wie wir noch öfters feststellen werden.

Wir haben einen Lauf. Eindeutig. Cems Tipp erweist sich als derart gut, dass wir an der Tankstelle, an der wir uns von ihm verabschieden, schon wieder mitgenommen werden, als wir uns gerade erst auf die Suche nach einem geeigneten Standposten machen. Kaum 5 Minuten nach der Rückbank mit den Farbspritzern nehmen wir im Family-Van von zwei Freiburger Brüdern Platz. Es folgen nette Gespräche, die wir tatsächlich der Deutschen Bahn zu verdanken haben. Die hat anscheinend mal wieder Probleme, weswegen Bruder 1 Bruder 2 kurzerhand mit dem Auto aus Stuttgart abgeholt hat. Rausgeworfen werden wir diesmal an einer Raststätte, an der wir das erste Mal Tramper-Stau erleben. Ein Pärchen und ein Mann auf der Walz stehen bereits mit erhobenem Daumen am Straßenrand.

Was uns hilft, ist eine bereits im Vorfeld abgemachte Regel: Jede (vertrauensvolle) Möglichkeit, (in die (halbwegs) richtige Richtung) mitgenommen zu werden, wird genutzt.
Das hat 2 Gründe. Zum einen zählt jeder Meter, zum anderen öffnet jedes Gespräch neue Möglichkeiten, Ansichten, Einblicke. An der tramperüberlaufenen Raststätte kommt ein dritter Grund dazu: Erstmal wegzukommen von dort, wo es viel Nachfrage bei nicht allzu großem Angebot gibt. Als also eine Studentin in ihrem VW Beetle vor uns das Fenster herunterlässt und fast entschuldigend gesteht, uns nur bis zur nächsten Raststätte mitnehmen zu können, steigen wir ein.

Verlockungen und eine Baggerschaufel voll Glück

Wo wären wir gelandet, hätten wir uns anders entschieden? Wären wir trotzdem angekommen? Wäre ich jetzt ein anderer Mensch? Zumindest habe ich jetzt eine konkrete Reisedestination im Schwarzwald mehr: das Brauereigasthaus Waldhaus, geführt von den Eltern unserer Fahrerin, die eben dorthin unterwegs ist, um in den Semesterferien im Betrieb auszuhelfen. Sie bietet uns an, uns gerne dorthin mitzunehmen, es liegt aber leider in der falschen Richtung. Allzu verlockenden Angeboten zu widerstehen, gehört eben auch zur erfolgreichen Fahrt per Anhalter, sonst kommt man nie an. Also lehnen wir ab und steigen an der nächsten Raste wie geplant aus. Rucksäcke ab, 2 Snickers gekauft, Schild und Zähne präsentiert und auf die baldige Weiterfahrt gehofft.

Wir stehen mittlerweile nicht weit vor Freiburg und kurz vor einer Brücke über den Rhein, die geradewegs hineinführt ins schöne Frankreich (unser erklärtes Minimalziel des Tages). So recht viele Leute wollen allerdings nicht rüber in unseren Nachbarstaat. Stattdessen wird unsere Zielstrebigkeit auf weitere Proben gestellt. Freiburg wird uns angeboten, wo wir beide gerne mal hinwollten. Zürich, wo einer meiner besten Freunde wohnt. Sogar Mailand, wo wir tatsächlich kurz zögern, in der Aussicht auf einen Espresso am Mailänder Dom noch an diesem Tage. Es ist spannend, wie einem die grenzenlosen Möglichkeiten auf einmal um die Ohren fliegen. Wir hätten nur Ja sagen müssen. Und doch sagen wir Nein und tauschen den Espresso in Bella Italia gegen eine weitere halbe Stunde warten. Belohnt werden wir in einer Weise, die eigentlich unverschämt ist. Woher wir auch immer dieses Glück haben.

Ich kann euch mitnehmen, ich fahre rüber nach Frankreich. So in etwa waren die ersten Worte. Eher zurückhaltend spricht uns Daniel von hinten an, hatte beim Vorbeifahren nicht angehalten, es sich dann aber doch anders überlegt. Im Nachhinein glaube ich, er war aufgeregter als wir, als wir unser Gepäck in seinen selbstausgebauten T4 hieven. Was mir auf meinen neuerlichen Tramper-Wegen aufgefallen ist: Beim Mitfahren mit Fremden sind die Gespräche am Anfang oft noch etwas distanzierter, manchmal fast unangenehm. Ein verbales Abtasten gewickelt in einer Situation, die beiden Seiten neu oder zumindest nicht alltäglich ist. In der ersten Viertelstunde, so ist es mein Eindruck, hat sich rückblickend oft entschieden, wie die restliche Fahrt verläuft. Ist man auf unterschiedlichen Wellen, war es oft höflich distanziert. Hatten wir einen gemeinsamen Nenner, endete es nicht selten in angeregten und interessanten Gesprächen. Und hatten wir einen Draht zuneinander, wurde es sogar freundschaftlich.

Mit Daniel fanden wir den Draht. Nach 5 Minuten stellt sich heraus, dass wir nicht nur in derselben Richtung unterwegs waren, sondern sogar zum selben Zwischenziel. Im Vorfeld hatten wir etliche Male überlegt, was denn die beste Route nach Santander wäre. Eigentlich verschwendete Zeit, man wählt beim Trampen die Route nun mal nicht in Eigenregie. Aber wenn denn tatsächlich alles klappen würde, was wäre sie? Nachdem wir eine ganze Zeit lang den Weg durch die Pyrinäen für erfolgsversprechend hielten (Tramperregel 21: Wo wenig Infrastruktur ist, gibt es viel Verständnis), hatte sich nach und nach die Atlantikküste als geeignetes Zwischenziel etabliert (Tramperregel 13: An der Küste fällt schon mal die Hälfte aller falschen Richtungen raus). Daniel fährt, viel Arbeit in den Knochen, zum lang erträumten Surfkurs nach Vieux-Boucau-les-Bains (an der südlichen Atlantikküste). Wir sagen erstmal nix und gucken uns verstohlen an, weil wir etwas überrumpelt davon sind, dass wir so schnell so weit kommen könnten. Aber auch wollen? Wir warten erstmal ab. So einfach hatten wir uns das nicht vorgestellt. „Besançon wär krass!“ waren die morgendlichen Worte gewesen, als wir über unser Traumziel des Tages gesprochen hatten.

Mittlerweile dämmert es und wir haben uns ordentlich mit Daniel festgeschnackt als wir an
Besançon vorbeituckern. Sitzen bleiben wir trotzdem. Der gute Daniel ist Verfechter der Landstraßen-Strategie, was die Route siebentausendfach schöner macht. Ob es ihm um die gesparte Maut oder wirklich um die Landschaft geht, weiß ich nicht. Mittlerweile haben wir erfahren, dass er die Nacht durchfahren will und mittlerweile wissen wir, dass wir abends irgendwo aussteigen und pennen werden. Wo, steht noch nicht fest.

Als wir uns der Kleinstadt Dole nähern, laden wir Daniel zumindest noch auf ein Chili sin Carne am Campingkocher ein. Und dann sitzen wir da also, an irgendeinem Schotterplatz an der D673, Cornelius auf einem gefundenen Liegestuhl aus dem Gebüsch nebenan, ich auf unserem richtungsweisenden Pappschild, Daniel im Seiteneingang seines Bullis. Erste Etappe, etwa 350 Kilometer von unserem Startpunkt entfernt, und alles nur durch die Hilfsbereitschaft und Offenheit der Menschen. Ich habe wieder das Gefühl, so ans Ende der Welt reisen zu können. Was kann einen aufhalten? Da ist er wieder, der überschwängliche Optimismus, der sich nach einem unerwarteten Erfolg einstellt. Und Cornelius wäre nicht Cornelius, würde er nicht aus jener Zufriedenheit heraus den standesgemäßen Primitivo aus dem Gepäck ziehen.
Und so geht alles, wie so oft katalysiert durch den guten alten Alkohol, seinen Gang. Erst füllen sich unsere Becher, dann der von Daniel. Wir jubeln kurz symbolisch und freuen uns, dass uns die angenehme Bekanntschaft noch etwas länger erhalten bleibt. Das Leben ist manchmal schon seltsam. Einige Stunden zuvor haben wir unseren Gegenüber noch nicht einmal gekannt, wären fast in ein Auto nach Mailand gestiegen. Jetzt sitzen wir geeint und betrunken in der französischen Provinz und befinden uns mitten auf einem Roadtrip zur Atlantikküste. Ein Abenteuer, gebaut auf Nichts als etwas Mut und Vertrauen in die Menschheit. Und vielleicht ein Stück weit auf Daniels fahrbarem Untersatz.
Stunden später rollt sich unser neuer Freund in seinem Bulli zusammen, wir legen uns auf die Terrasse der Hotelruine nebenan. Wo hätten wir die Nacht verbracht, wären wir nicht mit Daniel gefahren? Die Gedanken beschäftigen mich noch eine ganze Weile.

Nach einem kleinen Frühstück auf der Hotelveranda geht es am Morgen weiter durch die Weite Frankreichs. Ich war, abgesehen von Paris, noch nie in Frankreich. Einmal durchgerauscht, mit dem Nachtbus nach Santander. Sonst kenne ich nichts und freue mich nun wie ein Käserad, unser schönes Nachbarland im gemütlichen Tempo zu durchstreifen. Wir machen uns Späße daraus, Ladenschilder absichtlich falsch auszusprechen und freuen uns über jedes Baguette, das wir sehen. Dabei verfahren wir uns zwei Mal. Vielleicht liegt es am authentischen Charme des Ländlichen, den man lieber betrachtet als Wegweiser. Oder an den Gelbwesten, die hier und da am Straßenrand in Plastikstühlen sitzen, denen wir interessiert nachgucken. Am Wahrscheinlichsten liegt es an der Müdigkeit, denn die Strecke ist lang. Kein Mensch weiß, wie Daniel die Fahrt an einem Stück durchknüppeln wollte. Völlig unmöglich, wie er sich selbst eingesteht und sich doppelt freut, durch uns von der Idee abgehalten worden zu sein.

Wir schlüpfen in die Rolle des Bordpersonals, kochen bei jeder Gelegenheit aufmunternden Bialetti-Espresso und schnacken, was uns einfällt. Bis wir im Abendlicht das Ortsschild von Vieux-Boucau-les-Bains passieren. Was sich Daniel als lauschiges Surferdorf ausgemalt hat, entpuppt sich als Touristen-Hochburg. Camper an Camper, Ferienanlage an Ferienanlage. Wir suchen einen Campingplatz, aber alle sind voll, weswegen wir lieber erstmal das Meer begutachten. Meer tut immer gut. Das Problem löst das allerdings nicht und auch die nächsten Plätze sind belegt. Da Daniel einen Camper hat, hat zumindest er kein Problem. Wir beschließen trotzdem die Fahrt mit etwas Gaskartuschen-Gekoche ausklingen zu lassen und stellen den Wagen einfach auf eine kleine Grünfläche vor einem Campingplatz, der etwas weiter im Hinterland liegt. Cornelius und ich verdrücken uns später mit den Hängematten in den benachbarten Wald.

Ein Reh mit Eishockeymaske

Ach, wie ist es herrlich in der Hängematte direkt in der Natur zu sein. Ach, wie kann es aber auch unheimlich sein, wenn dauernd ein größeres Tier ganz in der Umgebung herumschleicht. Aber ist es denn ein Tier? Und zack, hat gefühlt jedes Geräusch eine Eishockeymaske auf und trägt eine blutige Axt in der rechten Hand.
Wer die einfachste Lösung solcher Probleme hören möchte, liest gerne den Blog zum Forststeig. Wer aber grad keine Lust auf eine Flasche Schnaps hat, vielleicht auch gar keine da hat oder das Problem schnellstmöglich lösen möchte, guckt einfach nach, was dort herumläuft. Ich werde heute noch von Cornelius damit aufgezogen, dass ich mit Messer im Anschlag losgezogen bin. Dass schließlich ein Reh als Geräuschurheber in den Lichtkegeln unserer Kopftaschenlampen auftauchte, stellte mich in der Geschichte auch nicht besser dar. Die restliche Nacht hab ich traumhaft geschlafen, auch wenn ich hätte schwören können, dass das Reh zuvor noch eine Eishockeymaske getragen hatte.

Am Morgen werden wir erstmal wieder belehrt. Hunderte, Tausende, Hundertausende Euro kostet das, wenn uns die Polizei beim Campen im Wald erwischt. Wir hätten gar nicht erst versuchen sollen, der Campingplatz-Oma beim morgendlichen Klogang zu erklären, dass wir in Hängematten immerhin in der rechtlichen Grauzone genächtigt hatten. Hangemateux? Hamaca? Hamac? Sprachlich waren wir noch weit von Frankreich entfernt. Ist aber ja ohnehin nur eine Zwischenstation. Also dankbar von Daniel verabschiedet, einmal im Meer geduscht und wir stehen wieder an der Straße. Es folgen ein paar wortkarge Franzosen, ein netter Angler mit Retro-Kombi aus Toulouse, ein spanischer Pendler und ein baskischer Rocker und schon bestellen wir am Abend in Irun die erste Caña in der nächstbesten Bar. Junge, Junge, wir sind tatsächlich in Spanien!
Wir sind in Spanien aber das eigentlich viel zu schnell. Im Leben nicht hatten wir erwartet, am Ende des dritten Tages bereits im Baskenland Bier zu trinken. Nun hatten wir nur noch gut 200 Kilometer und 3 Tage Zeit. Wahrhaft geschenkte Zeit. Eben weil ich mir nie erträumt hätte, derart schnell voranzukommen und eben weil hinter der Reise ständig die große Frage stand, ob wir es überhaupt schaffen würden. Tiefenentspannte Euphorie und Genugtuung machen sich in diesem Moment in mir breit. Ja, wir würden es rechtzeitig schaffen.

Die Idee für unseren Zeitvertreib für die kommenden 3 Tage bestand zur einen Hälfte daraus, dass wir unser Bier in Irun tatsächlich AUF dem Camino de Santiago, der direkt an der Bar vorbeiführte, tranken. Die andere Hälfte der Idee waren zahlreiche aufgeschappte Informationen, dass der baskische Teil des Jakobsweges entlang der schroffen Nordküste Spaniens zu den schönsten Abschnitten des Pfades zählen sollte. Einen Anruf später verspricht uns die Besitzerin des nächstgelegenen Campingplatzes trotz voller Belegung noch eine Ecke auf dem Gelände freizuräumen. Er liegt direkt am Camino und bietet die ideale Ausgangssituation, um am Morgen die zweite Etappe in Angriff zu nehmen. Die erste beginnt im Hier und Jetzt, 8 km Jakobsweg hin zu unserem heutigen Nachtlager.

Schon wenige Minuten nach Aufbruch in der Dämmerung koppelt uns die baskische Hügellandschaft komplett ab von einem Tag an lärmenden Straßen und hektischen Kreuzungen. Verfallene Ruinen, urige Landhäuser und kleine Kapellen schmieren uns schon auf den ersten Metern die volle Packung Pilgerweg um die Ohren. Nur der Untergrund ist noch geteert. Ab und zu holt uns ein Auto wieder in die Realität und wir drehen schnell die Stirnlampe auf die Hinterköpfe, um nicht hier, mitten in dieser baskischen Schönheit, überrollt zu werden.
Die authentische Besitzerin des Campingplatzes empfängt uns trotz der späten Stunde mit bester Laune und einem Platz für unser Zelt - auf dem Spielplatz. Rechts die Rutsche, links die Picknickbank, hinten ein Klettergerüst und dazwischen unser Zelt, was will man mehr?
Da ich oftmals kleine Dinge etwas zu überschwänglich ankündige oder eine Spur zu dramatisch zelebriere, hänge ich Cornelius seit Beginn der Reise mit der legendären FaKo(Fanta-Korn)-Nacht in den Ohren, die nun beginnen soll. Ich krame einen Rest Korn, den ich seit Deutschland mit mir rumschleppe, aus dem Rucksack und mische ihn mit etwas frischerer Fanta. Aus der hochgelobten FaKo-Nacht wird dann doch nur ein unspektakulärer Stadtspaziergang durch das urige Baskenkaff Hondarribia. Es nieselt und die Bewohner räumen gerade die Überbleibsel eines Festes aus den Gassen der Altstadt. Mehr als ruhige Straßen im gelblichen Licht der Straßenlaternen, das so typisch ist für südeuropäische Regionen, bekommen wir nicht. Legendärerweise ziehen wir also schon 2 Stunden später die Zeltplane hinter uns zu. Wie das immer so ist, die Vorfreude ist die schönste Freude.

Pilgerveteranen

"Buen Camino!" So begrüßt man sich auf dem Jakobsweg, wie wir bereits früh am nächsten Morgen feststellen. Jeder zweite wirft uns die Worte entgegen und lässt uns vom Start weg wie echte Pilger fühlen: Seit Monaten unterwegs, in Nordeuropa gestartet, das dritte Paar Schuhe und die heilige Mission im Gepäck. Das Seltsame: es gelingt uns tatsächlich, das selbstfindende Element und den spirituellen Charakter der Wanderung zu erahnen. Zumindest phasenweise. Und Cornelius vielleicht eine Spur mehr als ich. Das ist darum seltsam, da ich wieder einmal den Effekt der self fulfilling prophecy bewundere. Damit möchte ich keineswegs sagen, dass die Grundannahme, dass dem Jakobsweg etwas Spirituelles innewohnt, falsch sei. Aber im Grunde ist es dann doch nur ein Wanderweg. Genauso gut könnte ich dem Trampelpfad hinterm Haus folgen, käme aber eher nicht auf die Idee, dabei mich selbst und den Sinn des Lebens zu finden. Man sieht, was man sehen will.

Die meiste Zeit reden wir aber ohnehin über Blödsinn oder spielen Ratespiele während wir uns den Berg Jaizkibel hinaufarbeiten und danach an der atemberaubend schönen, nordspanischen Steilküste entlang. Über uns kreisen die Greifvögel, rechts brummt der Atlantik und überall zirpen die Grillen als unverwechselbares Indiz, endgültig im Süden angekommen zu sein. Erst gegen Etappenende widmen wir uns der standesgemäßen Frage des Schlafplatzes. Zelt (wild), Zelt (nicht-wild), Hängematte (wild), Unterkunft (komfortabel), Couchsurfing (gibts das in der Nähe)? Cornelius ist schon hüfttief drin im Pilgerfieber und entdeckt als ausgezeichneter Google Maps-Spürhund eine Pilgerherberge im Etappenziel Pasaia. Wenn schon, denn schon.

Kurz darauf stehen wir mit anderen Pilgern in der Schlange vor der Kapelle Ermita de Santa Ana, die nach First-Come-First-Served-Prinzip belegt wird. Als waschechte Pilger mit derart vielen Kilometern auf dem Buckel weist man uns aber selbstredend nicht ab und teilt uns ein Stockbett im Schlafsaal zu. Das schlechte Gewissen, bedürftigeren Wandernden ein Bett zu rauben, verflüchtigt sich rasch, als auch alle Übrigen einen Schlafplatz erhalten. Wir duschen, waschen unsere Sachen, kochen Pasta an der Aussichtsplatzform der Kapelle, erkunden noch etwas die steilen Hänge des Ortes und sind um 9 im Bett. Nachtruhe um 21:30, geweckt wird um 6:30, um 8:00 müssen alle wieder raus sein. Das Pilgerleben ist getaktet.

Um kurz vor halb Sieben hallen als Weckruf gregorianische Gesänge aus den Lautsprechern. Wenn ich bis jetzt nicht für einen höheren Zweck gewandert bin, ändert sich das in diesem Moment. Ich wäge mich auf einer Mission. Ich fühle mich wie in Königreich der Himmel, möchte Rüstung und Schwert anlegen, das Pferd halftern und gen Jerusalem marschieren. Die heilige Stadt tränkt sich schließlich nicht von selbst knöcheltief im Blut!

Ich schnüre dann aber doch nur die Turnschuhe und wandere gemeinsam mit den übrigen Pilgern aus aller Welt weiter gen Westen statt mir mit Ihnen die Köpfe einzuschlagen. Ist auch irgendwie schöner. Während die übrigen losziehen, gehen wir noch gemütlich frühstücken und bequatschen eine wichtige Budget-Frage: 7 Kilometer Umweg um die gesamte Bucht Pasaias herum oder das erste Geld in öffentliche Transportmittel investieren und in einer Minute übersetzen? Wir greifen tief in die Tasche und investieren einen Euro in die Überfahrt. Im kleinen Holzboot schippern wir durch die kühle Morgenluft hinein in einen vielversprechenden Tag während die Ermita de Santa Ana hinter uns am Hang gerade die ersten Sonnenstrahlen einfängt. Auf nach San Sebastian!

Der Lauf, das Loch und hilfreiche Stereotypen

Auch wenn ich es immer wieder sage und dennoch nie daraus lerne: Kaum etwas lohnt sich so sehr wie frühes Aufstehen. Am Anfang geht alles zwar noch etwas mühselig, aber erstmal in Gang, entlohnt die unvergleichbar klare Morgenluft.  Nebenbei hat man um 10 Uhr schon derart viel geschafft, dass man gefühlt Feierabend machen könnte. Wir erreichen Donostia-San Sebastian nach einer weiteren spektakulären Steilküsten-Etappe bereits gegen Mittag. Dort hauen wir das Geld der Eltern, das uns für ein zur Abwechslung anständiges Essen gegeben wurde, direkt für die in der Stadt berühmten Pinchos und Bier auf den Kopf. Die Jakobsmuscheln, in denen die Häppchen serviert werden, durchbohren wir und bandeln sie an unsere Rucksäcke. Glückwunsch, Sie haben das Pro-Level des Pilgerlebens erreicht!

Da wir dann ja wohl fast alles an Status auf dem Jakobsweg erreicht haben, hängen wir die sakrale Mission an den Nagel und widmen uns wieder dem weltlichen Trampen. Auch diesbezüglich läuft der Tag prächtig! Wir kommen schnell mit einer jungen Spanierin an die Autobahnauffahrt vor Eibar und werden dort von drei Menschen aus Senegal aufgegriffen. Kurioserweise halten sie erst an, stellen aber fest, dass unsere großen Rucksäcke eher keinen Platz im vollbepackten Wagen haben und fahren weiter. Erst vor der Mautstelle entscheiden sich die drei um. Der Wagen wird kurzerhand vor der Schranke umgepackt und Platz für unser Gepäck geschaffen. Ich bewundere derartige Seelenruhe.

Gequetscht und mit senegalesischem Saft versorgt (die drei kommen als Verkäufer und Verkäuferinnen von einem Markt in Eibar) geht es geradewegs auf Bilbao zu. Für unseren weiteren Anschluss wird im Auto abermals lange diskutiert und gegrübelt. Wo kommen wir am besten weiter? Die Menschen machen sich wirklich Mühe, fahren Umwege, wollen uns helfen. Als es auch in Bilbao schnell weitergeht, wähnen wir uns quasi am Ziel. Mit dem nächsten Wagen würden wir es sicher bis Santander schaffen, vor allem als uns unser Fahrer an einer Autobahnraststätte auf dem Weg dorthin rauslässt und uns die Info gibt, dort würden wirklich alle in die kantabrische Küstenstadt fahren. Aber wie in den Spannungsbögen der abgedroschenen Filme, fallen wir kurz vor dem Ziel in ein Loch.

Es ist drückend heiß, es gibt keinen Schatten und keine Sau fährt nach Santander. Angeblich. Die Leute schütteln den Kopf oder zeigen in die andere Richtung, obwohl sie nur in eine Richtung fahren können. Die Leute waschen ihr Auto, tanken ihre leeren Schlitten aber haben keinen Platz für uns. Das ist kein Vorwurf, sondern eher das, was man in solchen Moment fühlt. Wenn das hundertste Auto mit zig freien Plätzen an uns vorrüberrasselt, obwohl wir lächeln, obwohl wir gut und lange im Voraus zu sehen sind, obwohl unser Schild groß und gut lesbar ist.

Nach über 2 Stunden kommt der Frust und wir denken über Alternativen nach. Links ist ein hoher Berg, auf dem man sicher zelten könnte. 2 bis 3 Stunden Fußmarsch entfernt ist eine Bahnstation, mit einem Zug, der uns nach Santander brächte. 80 Kilometer vor unserem Ziel denken wir daran, die Reißleine zu ziehen oder zumindest für heute aufzugeben.
Da ich die Geduld verliere, machen wir einen Deal: Cornelius hatte vor etwa einer halben Stunde eine alten VW T1-Bulli auf den Rastplatz fahren sehen, der immer noch dort steht. T1-Fahrer seien schließlich immer entspannte Menschen, der nähme uns sicher mit, so seine Theorie. Das letzte Auto also, das wir abwarten würden.

Als sich der Bulli 10 Minuten später in Bewegung setzt und schon kurz darauf kurz vor unseren Füßen wieder zum Stehen kommt, können wir es kaum fassen. Es grüßt ein lässiger Surfer-Typ, alle von Cornelius Stereotypen des Bildes eines T1-Fahrers erfüllend.  Er fährt zum Flughafen in Santander, einen Kumpel abholen. Und so schießt man aus dem tiefsten Loch durch das Bremspedal eines fremden Menschen wieder auf die Überholspur und in tiefe Zufriedenheit. Es ist sommerliche Abendstimmung, wir liefern uns ein kleines Wettrennen unter Altersschwachen mit einem anderen Camper-Bulli und genießen die letzten Kilometer zu unserem Ziel in absolut kultiger Roadtrip-Stimmung.

Erst als die Übernachtungsfrage wieder aufkommt, fällt uns auf, dass wir eigentlich zu früh ankommen, genau genommen etwa 24 Stunden bevor unsere Freunde in der Stadt sind. Und da ist sie wieder, die geschenkte Zeit. 24 Stunden, die nach Cornelius Vorschlag ja auch auf dem Peña Cabarga, Santanders Hausberg, verbracht werden können. Aussicht wie keine Zweite, Camping strengstens verboten, nichts wie hin. Der surfende Stereotyp-T1-Fahrer lässt uns dankenswerterweise direkt am Fuße des Berges raus, jetzt müssen wir nur noch rauf. Die Sonne steht noch hoch und wir könnten es geradewegs zum Sonnenuntergang schaffen.

Die Rechnung wäre aufgegangen, hätte da nicht mal wieder eine verlockende Kneipe am Straßenrand ein kleines Siegesbier für uns bereitgehalten. Kompromiss: Zum Sonnenuntergang fahren da ja eh alle rauf, da nimmt uns auch sicher jemand mit. 

Die Rechnung wäre aufgegangen, hätten wir kurz vor Sonnenuntergang an der Straße gestanden. Die Menschen fahren nämlich in Scharen zum Sonnenuntergang auf den Peña Cabarga. Der Clou dabei ist nur, dass man, wenn die Sonne untergeht, bereits oben ist.

Wer sich einbildet, noch 2 Bier gurgeln zu müssen, darf sich nicht wundern, wenn die Sonne schon zur Hälfte verschwunden ist und kein Mensch mehr auf den Berg rauffährt. Wir ärgern uns grün und blau, dann stapfen wir los. Die zwei vereinzelten Autos, die vorbeiziehen, verfluche ich lautstark und merke, wie schnell einem der Hitchhiking-Erfolg zu Kopfe steigt. Erst als die Sonne schon nicht mehr zu sehen ist, sondern nur noch ihre Strahlen über den Horizont wirft, hält ein tiefergelegter, unprofessionell getunter Kleinwagen neben uns und nimmt uns mit. Der Fahrer ist in einem Alter, in dem Racing-Lenkrad und dicker Auspuff an der alten Karre von Mutti noch zu Coolheits-Indikatoren zählen. Damit ist auch die letzte Kategorie Autofahrender abgedeckt, von denen wir niemals gedacht hätten, dass sie Tramper mitnehmen. Zum Glück für uns fährt er nicht wie alle anderen auf den Peña Cabarga um den Sonnenuntergang anzugucken, sondern um zu Trinken, Gras zu rauchen und mit qualmenden Reifen Donuts zu drehen. Klingt überzogen, ist aber so. Und heute gehören wir da eben dazu, schnacken noch ein wenig mit den Auto-Fans und kochen uns dann was zu essen, während unsere neuen Bekanntschaften hinter uns im Leerlauf den Motor heulen lassen. Da Campen auf dem Berg strikt verboten ist, warten wir noch lange, bevor wir unser Zelt an die Hänge zwischen Büsche und Kufladen stellen.
So gut versteckt war das Zelt allerdings nicht, wie wir bei Sonnenaufgang feststellen müssen. Vielleicht war es dem Wein geschuldet. Zumindest die obere Ecke konnte man sehen, was bei einer giftgrünen Farbe nicht komplett unauffällig ist. Wildcamping-Trick #492: Immer ein Zelt in Waldgrün oder Braun kaufen, lässt sich deutlich besser verstecken (gilt nicht für Sandwüsten, Eislandschaften und Salzseen). Wenn die Nacht rum ist, ist das aber auch schon egal. Wir packen zusammen, ich fange mir beim Austreten knapp 100 (!) Zecken ein und wir machen uns auf den Weg, um endlich in unsere Destination einzureiten. Eine gemütliche Tagesetappe Jakobsweg, die Fähre über die Bucht und wir sind da.

Vorwärts immer, rückwärts nimmer!

Wer denkt, wenigstens das Ende der Reise verlief geplant, der irrt. Denn um den Jakobsweg zu erreichen, muss man schließlich noch vom Berg runter. Dafür nimmt ein weiser, kalkulierender Mensch die extra angelegte Straße. Ein weniger weiser, abenteuerlustiger Vollidiot nimmt den direkten Weg. Die 1,5 Stunden über die Serpentinen-Straße sind uns zumindest zu lang, in dem festen Glauben, das auf direktem Weg schneller hinzubekommen.

Was zu Beginn noch gut geht, wird nach und nach zur größten und schwersten Aufgabe unserer Reise. Felsige Abhänge, meterhohes Dornengestrüpp und unpassierbar dichter Bewuchs stellen sich uns in den Weg. Wie so oft ist trotz des Zeitverlustes Umkehren die schnellste Option, aber vor allem mit Cornelius, der gerade überlegt, sich sein Lebensmotto "Vorwärts immer, rückwärts nimmer" in fett und unterstrichen quer über die Stirn tättowieren zu lassen, keine wirkliche Alternative. Irgendwann stecken wir so tief am Hang, dass rückwärts überhaupt gar nicht mehr möglich scheint. Cornelius stürzt (fällt aber weich) und ich pieke mir in meine Isomatte ein Loch, das ich bis heute nicht geflickt bekommen habe und seitdem etwas härter schlafe.

Am Ende kommen wir nach zig aufgerissenen Armen und ellenlangen Dornengetrampel an die Stelle, von der völlig klar war, dass sie dort ist. Wer in einen Hang eine Straße baut, muss dem Berg zwangsläufig etwas abgewinnen, um sie ebenerdig zu gestalten. Heißt in unserem Fall ein etwa 3-4 Meter hoher Abhang. Während ich schon auf der Stelle kehrt machen will, zettelt Mister Vorwärts-immer-rückwärts-nimmer das Ein-Mann-Brainstorming an, wie man den Höhenunterschied überwinden könnte und beginnt, nach langen, stabilen Holzstämmen zu suchen. Das gefundene Exemplar reicht gerade mal bis zur Hälfte, steht alles andere als sicher und könnte maximal über eine Abseilung erreicht werden.

Während bei mir sämtliche Alarmsirenen laut dröhnen und unzählige Zeitungsartikel waghalsiger Dummheiten mit anschließendem Krankenhaus-Aufenthalt durch den Kopf rattern, beginnt Neli mit Hängemattenschnüren und den Heringen des Zeltes eine Steigleiter zu bauen. Als die an einem doch etwas wackelnden Busch hängt, gilt es das Risiko abzuwägen. Ich sehe gebrochene Knöchel und aufgeplatze Köpfe. Cornelius sieht Abenteuer und winkenden Stolz. Optimist und Pessimist? Idealist und Realist?
Zum Glück werfe ich nochmal einen Blick auf Cornelius Handy und entdecke 50 Meter oberhalb einen Forstweg, der uns in 20 Minuten zum unteren Ende der Straße bringen soll. Es ist der perfekte Ausweg, den Neli bereits vorher entdeckt hatte, aber als zu einfach empfand. Elender Lump. Ich ziehe alle Macht aufbringend mein Veto und lotse uns auf die sichere Route. Eine Stunde später stehen wir am Bahnsteig des nächsten Ortes. Über vier Stunden hat uns der Eineinhalb-Stunden-Abstieg auf direktem Weg gekostet.

Wir sind so k.o., dass wir das Budget für die letzten Kilometer bereitwillig nochmals erweitern und für 1,70€ eine Fahrkarte an den Hauptbahnhof Santanders lösen. Dort kommen wir schlafend aber glücklich an. Mit 2,70€ haben wir Ryanair letztlich preislich nicht geschlagen, dafür aber um Einiges mehr erlebt.
zwei Euro, siebzig Cent
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zwei Euro, siebzig Cent

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